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Therapie bei BIOS-BW in Pandemiezeiten

Erfahrungen und kritische Reflexion neuer medialer Wege im präventiven Opferschutz




Prof. Dr. Thomas Hillecke – Psychologischer Psychotherpeut Dr. Heinz Scheurer, Psychologischer Psychotherapeut Lotte Jauch, Studentin Universität Basel, CH


Wie die Psychotherapie generell (siehe Sümmerer, 2020) wurden auch in der Deliktorientierten (forensischen) Therapie sowie im präventiven Opferschutz und bei der Versorgung psychisch belasteter Geflüchteter aufgrund der Corona-Pandemie zunehmend Distanzangebote hinsichtlich der therapeutischen Kontaktgestaltung relevant. In der Psychotherapie generell bestanden Optionen der Fernbehandlung schon vor der Pandemie (siehe einige Publikationen zur internetbasierten Therapie; Berger 2015, Engelhard 2018) „und zahlreiche(n) Studien konnten die Wirksamkeit von Videotherapie für eine Vielzahl von Störungsbildern bereits zeigen (…). Dennoch wurde diese durchaus umstrittene Option (…) bis dato eher zurückhaltend angewandt. Die aktuelle Situation scheint nun wie ein Katalysator für eine Öffnung der bisherigen Kommunikationsform mit Präsenzkontakten dafür zu wirken.“ (Sümmerer 2020, S. 351). So beinhaltet im Gegensatz zu dieser eher optimistischen Einschätzung die Musterberufsordnung für Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (MBO) noch den folgenden Sachverhalt: „Psychotherapeuten erbringen psychotherapeutische Behandlungen im persönlichen Kontakt. Sie dürfen diese über elektronische Kommunikationsmedien nur in begründeten Ausnahmefällen und unter Beachtung besonderer Sorgfaltspflichten durchführen.“ Allerdings stellt die Corona-Situation einen solchen Ausnahmefall dar. Entsprechend haben dann auch die Landespsychotherapeutenkammern sowie die Kassenverbände diese Bestimmung gelockert und Telefon- und Videokontakten als Kommunikationsform psychotherapeutischer Gespräche zugestimmt. Ähnliches gilt auch für die Anwendung von Psychotherapie im forensischen Kontext.

Von Sümmerer (2020) zusammengestellte Studien, die für die Wirksamkeitshinweise im Bereich videogestützter Therapie vorliegen, betreffen die Diagnosen Depression, Angst, posttraumatische Belastungsstörung und Anpassungsstörung, die im forensischen Kontext eine höhere Relevanz für die Opferseite als für die Täterseite haben.

Neben den allgemeinen Fragen, welche Kommunikationstechnik mit welchen technischen Spezifikationen und Herausforderungen verbunden ist, ergeben sich eher inhaltliche Fragen, die für Therapeuten von größerer Bedeutung sind, denn „Videogestützte Psychotherapie ist nicht einfach dasselbe wie Präsenztherapie, nur mit einem Bildschirm dazwischen (…). Sie ist eine eigene Behandlungsform mit einer Vielzahl von Besonderheiten, die auf multiplen Ebenen Implikationen für die therapeutische Herangehensweise mit sich bringt. Der schlichte Versuch einer möglichst exakten Übertragung des klassischen Settings auf den Bildschirm greift zu kurz und führt potentiell zu Frustration auf beiden Seiten.“ (Sümmerer 2020, S. 356).


Neue Formen des therapeutischen Kontakts zur Ergänzung von Präsenzterminen

Im Rahmen der Coronainfektions-Risikoabschätzung genehmigte das Justizministerium am 16.03.2020 die Durchführung von Distanztherapiemöglichkeiten (Telefon- und videogestützte Gespräche) für die forensischen Ambulanzen in Baden-Württemberg. Eine ähnliche Vereinbarung liegt auch für Rheinland-Pfalz vor. Die Vereinbarungen gelten bislang bis mindesten zum 31.03.2021. Die damit verbundenen Optionen wurden infolgedessen von BIOS-BW in allen ihren Einrichtungen umgesetzt (FAB, PAKO, OTA, PSZ) und durch weitere fernmündliche präventive Angebote wie das Krisentelefon ergänzt. Weil anfangs keine datensicheren Videotools in ausreichender Anzahl für Psychotherapie zur Verfügung standen, hat sich BIOS-BW entschlossen „BIOS-Meet“ als eigenes für online Therapie nutzbares Videokonferenz-Tool zu entwickeln. Es stand ab Sommer 2020 zur Verfügung, und wurde seither technisch weiterentwickelt. Dieses Tool kann inzwischen von vielen PC-Systemen verwendet werden und funktioniert auch über die verbreiteten Handy-Betriebssysteme. Damit sind die meisten der Klienten von BIOS-BW auf diese Weise erreichbar geworden. Infolge der Gesamtentwicklung der Pandemie und der damit verbundenen Sicherheits- und Hygienestandards musste auch die Kommunikationsform der Therapieangebote weiterentwickelt werden. Aus therapeutischer Sicht standen entsprechend ministerieller Genehmigung nun neben weiterhin teilweise möglichen Präsenzkontakten (face-to-face-Kontakten) Telefongespräche und Videokonferenz sowie eine um diese Optionen erweiterte Dokumentationssoftware zur Verfügung. Die zusätzlichen und teilweise neu geschaffenen Optionen wurden dementsprechend in Mitarbeiterschulungen den Therapeuten vermittelt.


Therapeutische Besonderheiten der Formate im Vergleich

Die nachfolgende Tabelle wägt unter Berücksichtigung eigener Erfahrungen bei BIOS-BW sowie der Publikation von Sümmerer (2020) und der Seminararbeit von Jauch (2021) verschiedene Aspekte der Therapie in den verschiedenen Formaten ab. Interessant dabei ist, dass alle Formate Vor- und Nachteile sowie Chancen und Risiken beinhalten. Vielleicht ist die durch die Pandemie begünstigte verstärkte Nutzung von Telefonkontakten und Videokonferenzmöglichkeiten als eine Chance zu betrachten, diese Möglichkeiten abzuwägen, um zukünftig Psychotherapie auch – neben der Psychotherapie von Straftätern - in den Bereichen präventiver Opferschutz, Versorgung von Opfern von Gewalt- und Sexualstraftaten sowie der psychosozialen Versorgung von Geflüchteten noch besser einzusetzen.




Literatur:

Berger, Th. 2015 Internetbasierte Interventionen bei psychischen Störungen. Göttingen. Hogrefe.

Berger, T. (2017). The therapeutic alliance in internet interventions: A narrative review and suggestions for future research. Psychotherapy Research, 27(5), 511–524. https://doi.org/10.1080/10503307.2015.1119908

Engelhardt, E. M. (2018). Lehrbuch Onlineberatung. Göttingen. Vandenhoeck und Rupprecht.

Jauch L.A. (2021): Internetbasierte Psychotherapie Therapie in der Zukunft. Möglichkeiten und Grenzen, insbesondere in Bezug auf forensische Psychotherapie/ Psychotherapie mit Straftätern. Seminararbeit im Seminar: Einführung in die personenzentrierte Psychotherapie, eingereicht am 08.03.21 bei der Psychologischen Fakultät der Universität Basel

Justen – Horsten, A. & Paschen, H. (2016). Online-Interventionen in Therapie und Beratung. Ein Praxisleitfaden. Weinheim. Beltz.

Simpson, S., Richardson, L., Pietrabissa, G., Castelnuovo, G., & Reid, C. (2020). Videotherapy and therapeutic alliance in the age of COVID-19. Clinical Psychology and Psychotherapy, 1–13. https://doi.org/10.1002/cpp.2521

Sümmerer Ch. (2020): Psychotherapie auf Distanz? Spezifika und Implikationen der Arbeit mit Videositzungen. Psychotherapeutenjournal 4, 350-356



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